Gestern vor 30 Jahren wurde Henry Maske Weltmeister im Halbschwergewicht – als erster Boxer aus den neuen Bundesländern. Der „Gentleman“ löste einen Box-Boom in Deutschland aus, seine Kämpfe waren gesellschaftliche Großereignisse. Heute fristet die Sportart eher ein Schattendasein. Ist ein neuer Box-Boom möglich?
Wir schreiben den 20. März 1993, Ort: Philipshalle, Düsseldorf. Henry Maske boxt gegen „Prince“ Charles Williams. Es geht um die Weltmeisterschaft nach Version der IBF. Ein Stratege trifft auf einen Fighter, der als klarer Favorit in den Kampf geht. Williams hat seit mehr als acht Jahren nicht verloren, gilt als bester Halbschwergewichtler seiner Zeit. Hat Maske überhaupt eine Chance? Viele Experten haben Zweifel, dass dem Olympiasieger von 1988 auch bei den Profis der große Wurf gelingen kann. Seine Kritiker sehen in ihm einen exzellenten Konterboxer, dem aber die Härte fehlt – und der harte Schlag.
Den braucht der „Gentleman“ in seinem ersten von insgesamt zwölf Weltmeisterschaftskämpfen aber nicht. Mehr als 6.000 Fans in der Halle und rund fünf Millionen an den Fernsehgeräten werden Zeuge, wie Maske eine taktische Meisterleistung zelebriert. Mit seiner starken Führhand zermürbt der Rechtsausleger seinen Kontrahenten, dem selbst kaum Wirkungstreffer gelingen. „Es war ein unfassbares Erlebnis, den Arm hochgerissen zu bekommen. Die Zuschauer waren außer sich – das war irre“, erinnert sich Maske, dessen Vorbereitung durchwachsen verlief. „Ich war mir aber sicher, dass ich Williams schlagen kann. Mein Sieg überraschte mich in keinster Weise.“ Auch Matchmaker Jean-Marcel Nartz glaubte an einen Triumph, doch die Vorbehalte waren groß. Im Vorfeld sprach er mit einem Journalisten der „New York Times“, der Maske wegen seiner fehlenden Schlagkraft belächelte: „Dem habe ich gesagt: Nach Punkten kann Williams nicht gewinnen. Das griff der Journalist in einer Glosse auf und verarschte mich“, erzählt Nartz und schmunzelt.
18 Millionen Zuschauer am TV
Maskes deutlicher Punktsieg war der Auftakt eines Box-Booms in Deutschland, den kaum einer für möglich gehalten hatte. Die Sportart wurde in den Jahren danach gesellschaftsfähig, legte ihr Schmuddel-Image ab. Bis zu 18 Millionen Fans sahen die Kämpfe des „Gentleman“ im Fernsehen – und am Ring saßen zahlreiche Prominente. Der Fernsehsender RTL inszenierte Maske in einer Weise, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Und das kam überaus gut an, weil der „Gentleman“ so gar nicht gängigen Klischees über Boxer entsprach. Er hatte Manieren, konnte sich artikulieren – und Skandale waren ihm völlig fremd. „Die Symbiose mit RTL war einzigartig“, weiß Henry Maske, der die meisten seiner vorangegangenen 19 Profikämpfe auf kleiner Bühne absolviert hatte. „Wir hatten oft weniger als 1.000 Zuschauer in der Halle“, erinnert sich Nartz.
Nach dem Titelcoup folgten die großen Zahltage. Boxen entwickelte sich in den 1990er-Jahren zu einer Fernsehsportart, die es beinahe mit dem Fußball aufnehmen konnte. Renommierte Künstler gestalteten Maskes Mäntel, sein Einmarschlied „Conquest of Paradise“ wurde zum Welthit. Nicht nur seine Leistungen im Ring, sondern auch seine Auftritte in Talk- oder Quizshows begeisterten die Massen. Nie zuvor waren sich sportlicher Wettkampf und Unterhaltung näher als beim Boxen in den 1990e-Jahren. Maske avancierte zum sportlichen Gewinner der deutschen Einheit, zum ersten gesamtdeutschen Sportidol. Er stand auf einer Stufe mit den großen Stars, sein Bekanntheitsgrad lag bei über 95 Prozent.
Von Maskes Pionierarbeit profitierten viele andere Boxer. Etwa Axel Schulz, dessen Auftritte von RTL ebenfalls im großen Stil inszeniert wurden. Oder Dariusz Michalczewski, Sven Ottke und Markus Beyer. Und die Klitschko-Brüder, die ab Ende der 1990er-Jahre in Deutschland durchstarteten. „Ohne Henry Maske wären die Klitschkos hierzulande nicht so groß geworden“, sagt Bernd Bönte, langjähriger Manager der Schwergewichtler aus der Ukraine. „Er hat ihnen den Weg geebnet – das haben die Klitschkos selbst auch immer wieder betont.“
Boom ohne DDR-Boxer undenkbar
Als Maske im Frühjahr 1990 ins Profilager wechselte, fristete das Profiboxen in der Bundesrepublik ein Schattendasein. Und auf den Vorzeigeathleten aus der DDR hatte niemand gewartet. „Henry war damals nicht sonderlich beliebt“, erzählt Nartz. „Er war nicht der Typ, mit dem sich ein Boxfan identifizieren konnte.“ Am 8. März 1990 unterschrieben Maske und sein Trainer Manfred Wolke einen Vertrag mit Promoter Wilfried Sauerland – vor einer großen Journalistenschar in Berlin. Aber eine glorreiche Zukunft schien damals unwahrscheinlich. „Ich konnte nicht genau beurteilen, was auf mich zukommt“, blickt Maske zurück. „Leider mussten wir schnell erkennen, dass die meisten Menschen in Deutschland kein Interesse am Profiboxen hatten.“
Doch der gesellschaftliche Umbruch und die Wiedervereinigung wenige Monate später ermöglichten es, eine neue Begeisterung zu entfachen. „Die Wende war der Auftakt eines Aufschwungs, den wir nicht noch einmal erleben werden“, meint Nartz und verweist auf die vielen Boxtalente aus der DDR, die plötzlich auf den Markt kamen. „In der Bundesrepublik hatten wir nur Mittelmaß – abgesehen von Sven Ottke, Markus Bott und Graciano Rocchigiani.“ Letzterer hatte im März 1988 einen Weltmeistertitel im Supermittelgewicht gewonnen, aber damit nur in der Szene für Euphorie gesorgt. Am Ring saßen viele aus dem Rotlichtmilieu, die Intellektuellen gingen lieber ins Theater.
„Boxen hatte für die Fernsehsender keine große Relevanz“, weiß Bönte, der damals als Sportjournalist tätig war und bei Rocchigiani-Kämpfen oft am Ring saß. Als der Box-Boom begann, wechselte er zum Bezahlsender „Premiere“. Er leitete die Boxsport-Redaktion, kommentierte viele internationale, aber auch nationale Kämpfe. Sein Sender pflegte eine Kooperation mit Universum Box-Promotion um Promoter Klaus-Peter Kohl, dem großen Widersacher von Wilfried Sauerland. Die beiden waren umtriebige Geschäftsmänner, die ihre Boxställe in den 1990er-Jahren zu international renommierten Unternehmen entwickelten – dank sprudelnder Fernseheinnahmen.
Dem boxenden Personal boten die Promoter hervorragende Rahmenbedingungen, um sich voll auf den Sport konzentrieren zu können. „Wir mussten uns um nichts kümmern“, erinnert sich die einstige Fliegengewichtsweltmeisterin Regina Halmich, die im August 1995 zu Universum Box-Promotion wechselte. Zu einer Zeit, als Frauen keine Chancen auf eine große Karriere im Profilager eingeräumt wurden. „90 Prozent der Menschen in meinem Umfeld rieten mir von diesem Schritt ab“, erzählt Halmich, die in den 2000er-Jahren zur Hauptkämpferin aufstieg. „Für die Jungs war es am Anfang komisch, mit einer Frau zusammen zu trainieren. Aber sie haben gesehen, dass ich das gleiche Trainingsprogramm absolviere und keine Sonderbehandlung wollte. Damit konnte ich sie beeindrucken.“
Auch Halmich profitierte vom Box-Boom – und von den neuen Wegen, die Promoter Kohl bestritt. „Sauerland konnte damals mit Frauenboxen nichts anfangen“, erläutert Halmich, die sich gerne an die großen Kämpfe der 1990er-Jahre zurückerinnert – und an das Drumherum: „Wir hatten tolle Typen. Ich möchte nicht sagen, dass heute die Typen fehlen, aber damals waren alle unbedarfter.“ Es waren die Gegensätze, die das Publikum faszinierten. In den beiden Duellen zwischen Maske und Rocchigiani im Mai und Oktober 1995 kamen sie besonders zum Tragen. Es war die Auseinandersetzung zwischen Ost und West, zwischen Establishment und Milieu. „Heute fehlen im deutschen Profiboxen leider die Gegensätze“, sagt Bönte. Beide Kämpfe wurden unter dem Titel „Eine Frage der Ehre“ zum Kassenschlager. Für den Rückkampf rief RTL Rekordwerbepreise von 360.000 Deutsche Mark pro Minute aus. Und am Ring saßen viele Stars – etwa Boris Becker, Michael Schumacher und Heiner Lauterbach.
Ein weiteres Highlight der 1990er-Jahre: Der Freiluftkampf zwischen Michalczewski und Rocchigiani (Foto) im August 1996 – vor 25.000 Fans auf St. Pauli. Drei Monate später folgte Maskes tränenreicher Abschied – nach seiner einzigen Niederlage gegen Virgil Hill. Sogar der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte dem Box-Helden seine moralische Unterstützung zugesichert, nachdem er seinen Abschied aus dem Ring angekündigt hatte. „Das war sicher nicht meine klügste Entscheidung. Aber ich habe sie nie bereut“, blickt Maske zurück. Nach der knappen Punktniederlage hatte der „Gentleman“ eine Bevorzugung des US-Amerikaners vermutet. Er habe aufgrund seines Abschieds nicht mehr in „das kommerzielle Konzept“ gepasst.
Im Blickpunkt standen freilich auch die Weltmeisterschaftskämpfe von Axel Schulz gegen George Foreman und Francois Botha (beide 1995) sowie Michael Moorer (1996). Der mediale Trubel war dem Schwergewichtler zunächst fremd, in Talkshows wollte er nicht auftreten. „Ich hatte deshalb eine fette Diskussion mit RTL, man musste mich erst einmal überzeugen“, erzählt Schulz. Obwohl er alle großen Kämpfe verlor, avancierte er zum großen Sympathieträger. Das war aber nie sein Ziel. „Ich wollte bloß ein guter Boxer sein“, berichtet der Schwergewichtler, der sich gezielt Auszeiten vom Trubel nahm: „Für mich war es immer wichtig, in meine Heimatstadt Frankfurt an der Oder zurückzukehren – das hat mich geerdet.“ Der Hype um ihn war gigantisch, weil Schulz von RTL als legitimer Nachfolger von Max Schmeling inszeniert wurde. Über 18 Millionen Zuschauer schauten sich den Botha-Kampf im Fernsehen an – die höchste Quote, die ein deutscher Boxer jemals erreichte. Seine umstrittene Niederlage gegen Box-Legende Foreman bescherte ihm auch in den USA viel Ansehen. „Kurz nach dem Kampf rief mich das Management von Muhammad Ali an und lud mich zu einem Treffen ein“, erinnert sich Schulz. „Ich dachte zunächst: Was geht denn jetzt ab? Bin ich bei der Versteckten Kamera gelandet?“
Box-Kämpfe begeistern Intellektuelle
Ein Meilenstein für den Aufschwung war eine Veranstaltung im September 1992 in Kassel. Maske und Schulz stiegen im Rahmen der Kunstausstellung Documenta in den Ring – und zogen ein neues Publikum an. „Diese Veranstaltung hatte eine Reaktion zur Folge, weil Boxen und Kunst eigentlich nicht in Verbindung gebracht werden konnten“, erläutert Maske. Intellektuelle waren fasziniert von den Kämpfen, das Bild in der Öffentlichkeit änderte sich schlagartig. Und vor allem Maske war plötzlich in aller Munde. „Davor hatte sich keine Sau für ihn interessiert“, erinnert sich Nartz, der in den kommenden Jahren zahlreiche große Veranstaltungen auf die Beine stellte. Bis Juli 2002 für den Sauerland-Stall, danach für Konkurrent Universum Box-Promotion.
Der Boom hielt noch eine Weile an, obwohl die Typen der 1990er-Jahre fehlten. Große Fernsehübertragungen gab es an fast jedem Wochenende. Neue Helden kämpften um WM-Titel, doch die Massen konnten sie nicht begeistern. Dann zogen sich die Sender zurück – und das Boxen verschwand wieder in der Nische. „Wir haben auch heute genügend Kämpfer, die man vermarkten könnte“, sagt Rainer Gottwald. Der umtriebige Promoter kämpft dafür, dass das Boxen hierzulande wieder mehr wahrgenommen wird. Kürzlich schloss er eine Kooperation mit dem Streamingdienst DAZN ab, der in diesem Jahr vier Veranstaltungen live übertragen will. „Das Interesse am Profiboxen ist in Deutschland weiterhin riesengroß“, betont Bönte. „Wir brauchen vor allem wieder Boxerinnen und Boxer, die echte Persönlichkeiten sind, aber auch die Medienpartner, die diese dann einem breiteren Publikum präsentieren.“ Mit Schwergewichtler Viktor Jurk hat er ein vielversprechendes Talent unter seinen Fittichen, das zum Publikumsliebling reifen könnte. Doch der Weg ist viel schwerer als in den 1990er-Jahren. Gesamtgesellschaftliches Interesse wird es nicht mehr geben, Einschaltquoten wie damals sind utopisch. Die Medienlandschaft hat sich ausdifferenziert, neue Sportarten sind ins Rampenlicht gerückt. Die alten Zeiten werden nicht wiederkommen. Aber neue können beginnen. (Text: Daniel Seehuber)